Zwangspsychiatrie in Zahlen und die Willkür psychiatrischer „Diagnostik“

Zwangspsychiatrie in Zahlen und die Willkür psychiatrischer „Diagnostik“

Die Statistiken des Bundesministeriums der Justiz belegen das beträchtliche Ausmaß an psychiatrischen Zwangsmaßnahmen in der BRD. Im Jahr 2005 belief sich die Zahl der Unterbringungsverfahren nach öffentlichem Recht (Psychisch-Kranken-Gesetzen) und Betreuungsrecht insgesamt auf 208.779.[39] Somit waren in diesem Jahr rund 0,25%, also jede/r Vierhundertste der 82,5 Millionen (82 438 000) in Deutschland lebenden Menschen von Zwangsunterbringung betroffen. Im chronologischen Vergleich der Daten wird ein drastischer Anstieg von psychiatrischen Zwangsmaßnahmen sichtbar. Seit Inkrafttreten des neuen, angeblich „reformierten“ Betreuungsrechts im Jahr 1992 ist die Entrechtung nicht weniger geworden, sondern die Zahl der „rechtliche Betreuung“ genannten Vormundschaften ist kontinuierlich angestiegen. Während es 1992 bundesweit 436.000 „Betreuungen“ gab, waren es im Jahr 2002 bereits über eine Millionen (1.047.406) „Betreuungen“ – ein Anstieg also um mehr als das Doppelte! [40] Parallel dazu stieg die Anzahl der mit Freiheitsentziehung verbundenen Unterbringungen nach Betreuungsrecht von 40.369 (1992) auf 110.914 (2002).[41] Die Zahl der Anordnungen von Einwilligungsvorbehalten nach § 1903 BGB verdoppelte sich von 5.041 im Jahr 1992 auf 10.214 im Jahr 2002 und stieg weiter auf 11.652 im Jahr 2005.[42] Demgegenüber ist die Anzahl der öffentlich-rechtlichen Zwangsunterbringungen nach den Landesgesetzen in diesen zehn Jahren um „lediglich“ 12 Prozent von 52.191 (1992) auf 58.420 (2002) gestiegen.[43] Diese Tendenz war auch im Jahr 2005 ersichtlich: Während es 63.155 Verfahren zur Zwangsunterbringung nach PsychKG gegeben hatte, betrug die Anzahl der Verfahren zur Zwangsunterbringung nach Betreuungsrecht/BGB mit 145.624 mehr als das doppelte.[44] Professor Eckhard Rohrmann von der Universität Marburg kam angesichts dieser Statistiken zu folgender Überlegung: „Wenn wir das nicht auf einen Besorgnis erregenden Zuwachs der Einsichtsunfähigkeit in der Bevölkerung generell zurückführen wollen, können nur Verfahrensprobleme, genauer: eine gewachsene Bereitschaft, eine solche zu unterstellen und gutachterlich zu bescheinigen, die Ursache für diese Entwicklung sein. In diesem Fall wäre aber die Diagnose einer Einsichtsunfähigkeit weniger ein objektiver medizinischer Befund, als vielmehr Ausdruck spezifischer Einstellungen der Gutachter. (…) Wäre Einsichtsunfähigkeit tatsächlich ein objektivierbarer Tatbestand, so wäre damit zu rechnen, dass dieser mehr oder weniger gleichmäßig über die gesamte Bundesrepublik verteilt wäre.“ [45] Die Verteilung ist ganz und gar nicht gleichmäßig: In Bayern wurden nach Betreuungsrecht im Jahr 1998 „etwa doppelt so viele Unterbringungen pro tausend Einwohner angeordnet (…), wie im übrigen Bundesgebiet, und etwa zehn mal so viele, wie in den neuen Bundesländern, ohne dass dort die öffentliche Ordnung zusammengebrochen wäre“.[46] Das bedeutet: Wenn nicht „die Einsichtsunfähigkeit der bayerischen Bevölkerung in diesem dramatischen Ausmaß von derjenigen der übrigen Bundesbürger“ abweicht, dann resultieren die Unterschiede aus “unterschiedlichen Einstellungen von Gutachtern und Richtern in den einzelnen Bundesländern gegenüber Willensentscheidungen, die ihnen sinnwidrig erscheinen”.[47] Ein Beleg für die Beliebigkeit und Willkür psychiatrischer „Diagnostik“.

PsychiaterInnen können aus jeder menschlichen Regung eine „psychische Krankheit“ herbeiphantasieren. Indem Gert Postel, als sogenannter „Hochstapler“ bekannt, die Psychiatrie jahrelang täuschte, kann er nun darüber Zeugnis ablegen. Dem gelernten Postboten gelang es, ohne ärztliche Ausbildung, einmal als Amtsarzt in Flensburg und das andere Mal als hochgeachteter psychiatrischer Gutachter und Oberarzt in Zschadraß bei Leipzig zu arbeiten, wo er PsychiaterInnen anleitete, Approbationen verlieh und Stellen vergab. Am Ende wurde ihm sogar ein Chefarztposten in der Forensik angeboten.[48] „Niemals wurde er kritisiert“ berichtet auch FOCUS online, denn „fragen gilt in diesen Kreisen als Inkompetenz“, so Postel.[49] Gert Postel hatte auch neue „Krankheiten“ erfunden, wie die „bipolare Depression dritten Grades – die niemand jemals hinterfragte. Eine intellektuelle Herausforderung sei diese Arbeit nicht gewesen.“ [50] Postels Resümee: „Sie können mittels der psychiatrischen Sprache jede Diagnose begründen und jeweils auch das Gegenteil und das Gegenteil vom Gegenteil – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.“ (…) „Bestimmte Symptome unter bestimmte Begriffe zu subsumieren, kann auch jede dressierte Ziege.“[51] Und: „Wer die psychiatrische Sprache beherrscht, der kann grenzenlos jeden Schwachsinn formulieren und ihn in das Gewand des Akademischen stecken“.[52]

Um Menschen anschließend einsperren und zwangsbehandeln zu können, kann auch “gute Fassade” als Begründung herhalten (es wird einfach unterstellt, die/der Betroffene tue nur so, als sei sie/er nicht “krank”).[53] Selbst wenn eine/r versucht, sich “krankheitseinsichtig” zu zeigen, in der Hoffnung, die Verurteilung abzumildern oder später schneller entlassen zu werden, kann sich das gegen ihn wenden, indem „vorgetäuschte Krankheitseinsicht“ diagnostiziert wird.[54] Letzteres oder auch die „gute Fassade“ sind zwar keine „echten Diagnosen“, die sich verschlüsselt im „International Statistical Classification of Diseases (ICD)“ genannten Krankheitenkatalog der WHO finden lassen, doch für den Fall, dass PsychiaterInnen nicht einfällt, wo sie es ansonsten einordnen könnten, gibt es im ICD-10 (GM Version 2010) die Diagnose F99 „Psychische Störung ohne nähere Angabe“. [„Inkl.: Psychische Krankheit o.n.A.“, „Exkl.: Organische psychische Störung o.n.A. (F06.9)“]

Psychiatrisiert zu werden könnte jede/n treffen. Häufig passiert es, wenn jemand bei zwischenmenschlichen Konflikten innerhalb einer Gruppe (z.B. Familie) oder anlässlich sozialer Probleme (z.B. Arbeitsunwilligkeit oder -unfähigkeit) als störend empfunden wird und ‚elegant‘ aus dem Weg geschafft und den herrschenden Verhältnissen angepasst werden soll. Aber auch politisch aktive Menschen sind besonders gefährdet. So diente beispielsweise die Psychiatrie in der Sowjetunion u.a. dazu, Oppositionellen eine „psychische Krankheit“ anzudichten, um sie wegzusperren. Zu den offensichtlich politischen Skurrilitäten psychiatrischer Worterfindungskunst gehören z.B. „Drapetomania“ – die Tendenz von SklavInnen, ihren Herren zu entfliehen, „Paranoia reformatoria sive politica“, der angebliche „Reformations- oder politischer Wahn“ mit dem die Bestrebungen der Demokraten zu Kaisers Zeiten entpolitisiert und verleumdet wurden, so wie die heute noch im ICD verzeichnete „Paranoia Querulans“ – zu deutsch: „Querulantenwahn“. Auch Homosexualität galt sehr lange als „psychische Krankheit” und wurde erst 1992 aus dem ICD gestrichen. Im Rahmen der Massenmorde von 1939-1949 mittels Gas, Giftspritzen und zu Tode hungern lassen wurde die psychiatrische „Diagnose“ sogar zum Todesurteil.

Quellen:

Bundesministerium der Justiz: Betreuungszahlen 2005. Statistische und grafische Auswertungen der Sondererhebungen „Verfahren nach dem Betreuungsgesetz“ seitens des Bundesministeriums der Justiz (sowie ergänzender Erhebungen) – mit Änderungen; Stand 30.1.2007, www.bt-portal.de/fileadmin/BT-Prax/downloads/Statistik_Betreungszahlen/Betreuungszahlen2005.pdf

Postel, Gert: „Das kann auch eine dressierte Ziege“ in FOCUS online 05.08.2009

Postel, Gert zitiert bei Gert Postel-Gesellschaft: www.gert-postel.de

Rohrmann, Eckhard: Vortrag von Prof. Rohrmann aus der Universität Marburg in der öffentlichen Gegenanhörung zur Änderung des Betreuungsrechts „Macht – Hilfe – Gewalt. Wie frei muss ein freier Wille sein?“ am 16. Juni 2004, Haus der Demokratie, Berlin

Talbot, René/ Narr, Wolf-Dieter: „Der Geständniszwang macht die Zwangsbehandlung zur Folter“. René Talbot und Wolf-Dieter Narr im Gespräch. In: Die Irren-Offensive Nr. 13, Berlin 2006, S.11-13


[39] Bundesministerium der Justiz: Betreuungszahlen 2005. Statistische und grafische Auswertungen der Sondererhebungen „Verfahren nach dem Betreuungsgesetz“ seitens des Bundesministeriums der Justiz (sowie ergänzender Erhebungen) – mit Änderungen; Stand 30.1.2007, Seite 31. www.bt-portal.de/fileadmin/BT-Prax/downloads/Statistik_Betreungszahlen/Betreuungszahlen2005.pdf

[40] Vgl. Rohrmann, Eckhard: Vortrag von Prof. Rohrmann aus der Universität Marburg in der öffentlichen Gegenanhörung zur Änderung des Betreuungsrechts „Macht – Hilfe – Gewalt. Wie frei muss ein freier Wille sein?“ am 16. Juni 2004, Haus der Demokratie, Berlin www.freedom-of-thought.de/gegenanhoerung/gegenanhoerung_vortrag.html

[41] Bundesministerium der Justiz 2007: 29. Bei diesen Werten könnten  noch die Unterbringungsverfahren nach § 1846 BGB hinzugerechnet werden, diese fehlen jedoch für 1992/2002.

[42] ebd.: 20

[43] ebd.

[44] vgl. ebd.: 31

[45] Rohrmann-Vortrag 2004

[46] ebd.; siehe auch die Unterschiede im regionalen Vergleich beim Bundesministerium der Justiz 2007: 30 ff.

[47] Rohrmann-Vortrag 2004

[48] Siehe auch Gert Postels Autobiographie „Doktorspiele. Geständnisse eines Hochstaplers“

[49] Postel, Gert: „Das kann auch eine dressierte Ziege“ in FOCUS online 05.08.2009

[50] Ebd.

[51] Ebd.

[52] Postel, Gert, zitiert bei Gert Postel-Gesellschaft, www.gert-postel.de

[53] Talbot, René/Narr, Wolf-Dieter: „Der Geständniszwang macht die Zwangsbehandlung zur Folter“. René Talbot und Wolf-Dieter Narr im Gespräch. In: Die Irren-Offensive Nr. 13, Berlin 2006, Seite 12, www.antipsychiatrie.de/io_13/narr.htm

[54] vgl. ebd.